4 Minuten
Entdeckung eines neuen Sinneswegs: Wie das Mikrobiom das Gehirn steuert
Aktuelle wissenschaftliche Studien revolutionieren unser Verständnis der Darm-Hirn-Achse und haben einen bislang unbekannten „neurobiotischen Sinn“ identifiziert—eine neue Art der Sinneswahrnehmung, die es den Darmbakterien ermöglicht, direkt auf die Gehirnfunktion, den Appetit und das Verhalten einzuwirken. Diese bahnbrechende Entdeckung gelang einem Forscherteam der Duke University, das erstmals die präzisen biologischen Mechanismen aufdeckte, die eine unmittelbare Kommunikation zwischen dem Mikrobiom im Verdauungstrakt und dem Nervensystem ermöglichen.
Wissenschaftlicher Hintergrund: Die Bedeutung der Darm-Hirn-Achse
Die komplexe Darm-Hirn-Achse, ein bidirektionales Kommunikationssystem zwischen Verdauungstrakt und Zentralnervensystem, steht seit Langem im Fokus der Forschung, da sie zahlreiche Erkrankungen wie Stoffwechselstörungen oder psychische Leiden beeinflusst. Bis vor Kurzem blieben jedoch die konkreten biologischen Abläufe, durch die mikrobielles Geschehen neuronale Signale steuert, weitgehend ungeklärt. Der menschliche Verdauungstrakt mit seinen Billionen Mikroorganismen—dem sogenannten Darmmikrobiom—rückt damit als multifunktionale Schaltzentrale für Immunität und seelisches Wohlbefinden in den Vordergrund.
Neue Experimente identifizieren Signalwege: Flagellin als Botschafter
Im Mittelpunkt der aktuellen Studie stand das bakterielle Protein Flagellin, das natürlicherweise in vielen Darmbakterien vorkommt und vom Immunsystem als molekulares Signal erkannt wird. Das Ziel der Forscher war es, herauszufinden, ob Flagellin auch eine direkte, neuronale Vermittlerrolle zwischen Darmmikroben und Gehirn übernehmen kann—über die bereits bekannte Immunfunktion hinaus.
Zur Überprüfung dieses Ansatzes erhielten Mäuse nach einer Fastenperiode kleine, exakt dosierte Mengen Flagellin. Die Analysen zeigten, dass daraufhin eine Kaskade physiologischer Reaktionen einsetzte. Flagellin aktivierte offenbar spezialisierte Zellen im Darm, sogenannte „Neuropoden“, die ihrerseits Informationen über den Vagusnerv—die wichtigste Nervenverbindung zwischen Darm und Gehirn—weiterleiteten. Das Ergebnis: Eine deutlich verminderte Nahrungsaufnahme, was darauf hindeutet, dass mikrobielle Signale das Essverhalten direkt und in Echtzeit beeinflussen.
In weiteren Experimenten deaktivierten die Wissenschaftler Rezeptoren, die speziell auf Flagellin reagieren. Wurde diese Signalübertragung blockiert, blieb die übliche Reduktion des Fressverhaltens aus. Damit konnte eindrucksvoll belegt werden, dass der Flagellin-Neuropod-Vagusnerv-Weg eine entscheidende Rolle in der direkten Kommunikation zwischen Darmbakterien und Gehirn spielt.

Vorschlag eines „Neurobiotischen Sinnes“
Auf Basis dieser Ergebnisse schlägt das Forschungsteam die Anerkennung eines sechsten Sinnes vor: des „neurobiotischen Sinnes“. Anders als die klassischen Sinne wie Sehen, Hören oder Riechen ermöglicht dieser neuartige Wahrnehmungssinn dem Körper, molekulare Muster aus dem eigenen Darmmikrobiom zu erkennen und entsprechend zu reagieren. Laut der veröffentlichten Studie kann ein Organismus so Verhaltensweisen wie Appetit oder möglicherweise auch die Stimmungslage fortlaufend an mikrobielle Signale anpassen.
„Dieser Sinn versetzt den Wirt in die Lage, sein Verhalten gezielt als Antwort auf molekulare Strukturen der ansässigen Mikroorganismen zu steuern,“ erklären die Autoren. „Wir bezeichnen dieses Zusammenspiel von Mikrobiota und Gehirn als neurobiotischen Sinn.“
Auswirkungen auf die Gesundheit und Perspektiven
Auch wenn diese ersten Erkenntnisse aus Tiermodellen stammen, sprechen die funktionellen Ähnlichkeiten zwischen Maus- und menschlichem Verdauungssystem dafür, dass das neurobiotische Signalprinzip auch bei Menschen existiert. Sollte sich dies in künftigen Studien bestätigen, würde das die Erforschung und Therapie zahlreicher Erkrankungen verändern, die mit der Darm-Hirn-Achse assoziiert sind—etwa Adipositas, Essstörungen, Depressionen und Angststörungen.
Studienleiter Diego Bohórquez betont die Tragweite: "Diese Arbeit kann der Wissenschaft helfen zu erklären, wie unser Verhalten durch Mikroben beeinflusst wird. Als nächstes müssen wir erforschen, wie unterschiedliche Ernährungsweisen die Mikrobenzusammensetzung im Darm verändern. Das könnte entscheidend sein für Erkrankungen wie Fettleibigkeit oder psychische Störungen."
Zukünftige Forschungen zielen darauf ab, weitere Signalwege zwischen Mikrobiom und Nervensystem zu entschlüsseln und zu untersuchen, wie Veränderungen im Darmmikrobiom—hervorgerufen durch Ernährung, Alter oder Lebensstil—das neurobiotische Signal beeinflussen. Mit wachsendem Wissen könnten gezielte Maßnahmen zur Steuerung von Appetit, Stoffwechsel und psychischer Gesundheit entwickelt werden, indem dieser besondere sechste Sinn gezielt genutzt oder moduliert wird.
Fazit
Die Entdeckung des „neurobiotischen Sinnes“ ist ein bedeutender Fortschritt im Verständnis der Wechselwirkung von Darm und Gehirn. Die Aufdeckung der direkten und schnellen Kommunikation zwischen Darmbakterien und Nervensystem eröffnet neue Möglichkeiten in Diagnose, Prävention und Therapie zahlreicher Krankheiten. Zukünftig könnten gezielte Eingriffe auf Ebene des Mikrobioms innovative Lösungen für eine optimale Gehirn- und Körpergesundheit ermöglichen.
Quelle: nature
Kommentare