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Seminalplasma-Überempfindlichkeit verstehen: Eine oft übersehene Immunantwort
Für viele Menschen ist Geschlechtsverkehr eine intime Erfahrung ohne nennenswerte Nebenwirkungen. Doch für eine wachsende Bevölkerungsgruppe kann der Kontakt mit Sperma Beschwerden auslösen, die über Unwohlsein hinausgehen—von Brennen und Juckreiz bis hin zu potenziell lebensbedrohlichen allergischen Reaktionen. Dieses Krankheitsbild, medizinisch als Seminalplasma-Überempfindlichkeit (SPH) bezeichnet, ist häufiger und wird noch immer häufig missverstanden.
Was ist Seminalplasma-Überempfindlichkeit?
Bei SPH handelt es sich nicht um eine Allergie gegen die Samenzellen selbst, sondern gegen bestimmte Proteine im Seminalplasma—also in der Flüssigkeit des Spermas, die die Spermien umgibt. Erstmals wurde diese ungewöhnliche Allergie 1967 in medizinischen Fachzeitschriften beschrieben, als eine Frau nach sexuellem Kontakt eine schwere allergische Reaktion erlitt. Heute wird SPH als Typ-I-Überempfindlichkeitsreaktion eingeordnet, in die gleiche immunologische Kategorie wie Heuschnupfen, Erdnussallergie oder Katzenhaarallergie.
Symptome: Von lokalen Beschwerden bis zu systemischen Reaktionen
Frauen mit SPH können unterschiedlich stark ausgeprägte Symptome zeigen. Einige Betroffene reagieren vor allem im Genitalbereich mit Juckreiz, Brennen, Schwellungen oder Rötungen von Vulva und Vagina. Andere erleben Ganzkörperreaktionen wie Nesselsucht, Atemnot, verstopfte Nase, Schwindel oder in seltenen Fällen eine Anaphylaxie—eine potenziell lebensbedrohliche systemische Reaktion. Auffällig ist, dass die Symptome meist sofort verschwinden, wenn beim Geschlechtsverkehr Kondome verwendet werden, was einen wichtigen diagnostischen Hinweis liefert.
Bis in die späten 1990er Jahre galt SPH als äußerst selten, mit weniger als 100 weltweit beschriebenen Fällen. Doch die Forschung des Allergologen Dr. Jonathan Bernstein widerlegte diese Annahme: Seine Studien zeigten, dass bis zu 12 % der Frauen mit Beschwerden nach dem Geschlechtsverkehr vermutlich an SPH leiden—eine Quote, die auch unabhängige, spätere Untersuchungen bestätigten. Vermutlich bleiben viele Fälle unerkannt oder werden fälschlicherweise als sexuell übertragbare Krankheiten, Pilzinfektion oder unspezifische Unverträglichkeit gedeutet—oft aufgrund fehlender Kenntnisse bei Betroffenen und Behandelnden. Eine Studie aus dem Jahr 2024 zeigte zudem, dass SPH häufiger vorkommt und öfter übersehen wird, als es bisher angenommen wurde.

Die Wissenschaft hinter der Sperma-Allergie: Die Rolle des Prostataspezifischen Antigens
Das Eiweiß, das bei SPH meist für die allergische Reaktion verantwortlich ist, ist das prostataspezifische Antigen (PSA). PSA ist in jedem Ejakulat enthalten, unabhängig vom männlichen Partner. Daher können Frauen mit Seminalplasma-Überempfindlichkeit auf das Sperma jedes Mannes reagieren, nicht nur auf einen bestimmten Sexualpartner. Neuere Studien belegen zudem Kreuzreaktionen—so ähnelt etwa das Hundallergen Can f 5 menschlichem PSA, was erklären könnte, warum manche Frauen mit Hundehaarallergie auch auf Sperma allergisch reagieren.
In seltenen Fällen können über die Nahrung aufgenommene Proteine im Sperma erscheinen und wiederum allergische Reaktionen beim Partner auslösen. Es gibt dokumentierte Berichte, in denen Frauen nach dem Sex Nesselsucht bekamen, weil sich Spuren von Nussproteinen im Ejakulat des Partners befanden.
Diagnose: Eine unterschätzte Allergie erkennen
Die Diagnose von SPH startet in der Regel mit einer gründlichen Anamnese, wobei zeitlicher Zusammenhang und Konsistenz der Symptome im Zusammenhang mit Samenkontakt geklärt werden. Im Anschluss können spezielle Allergietests folgen, wie Pricktests mit dem Sperma des Partners oder Laboranalysen auf PSA-spezifische IgE-Antikörper. Forschungsergebnisse zeigen zudem, dass gewaschene Spermien—getrennt vom Seminalplasma—meist keine Allergie auslösen, sodass das Allergen tatsächlich in der Flüssigkeit und nicht in den Spermien lokalisiert ist.
Männer und Sperma-Allergie: Das Post-orgasmic Illness Syndrome (POIS)
Zwar ist SPH am häufigsten bei Frauen beschrieben, doch auch Männer können auf ihr eigenes Sperma allergisch oder autoimmun reagieren. Dieses Krankheitsbild heißt Post-orgasmic Illness Syndrome (POIS) und äußert sich durch grippeähnliche Beschwerden wie Erschöpfung, Muskelschmerzen und Konzentrationsprobleme direkt nach der Ejakulation. Die Diagnose ist komplex, aber in einigen dokumentierten Fällen ergaben Allergietests mit eigenem Sperma einen positiven Befund. Heute geht man davon aus, dass sowohl immunologische als auch allergische Faktoren beteiligt sein können.
Auswirkungen auf Fruchtbarkeit und Therapiemöglichkeiten
Die Seminalplasma-Überempfindlichkeit führt nicht direkt zu Unfruchtbarkeit, kann aber das Kinderwunschmanagement erschweren. Ein vollständiger Kontaktverzicht—wie bei anderen Allergien oft empfohlen—kommt für Paare mit Kinderwunsch nicht infrage. Mögliche Behandlungsansätze sind unter anderem:
- Prophylaktische Einnahme von Antihistaminika (vor dem Geschlechtsverkehr)
- Entzündungshemmende Medikamente
- Immuntherapie (Desensibilisierung mit verdünntem Seminalplasma)
Bei schwereren oder anhaltenden Fällen können assistierte Reproduktionstechniken wie eine In-vitro-Fertilisation (IVF) mit gewaschenen Spermien helfen, die allergieauslösenden Plasmaproteine zu umgehen. Wichtig: SPH ist nicht gleichbedeutend mit Unfruchtbarkeit; viele betroffene Frauen konnten mit oder ohne zusätzliche medizinische Unterstützung erfolgreich schwanger werden.
Warum bleibt die Seminalplasma-Überempfindlichkeit meist unentdeckt?
Trotz der Tatsache, dass SPH eine gut behandelbare Allergie ist, bleibt sie aus verschiedenen Gründen oft unerkannt. Scham, Stigmatisierung sowie die private Natur sexueller Symptome führen dazu, dass Betroffene selten medizinische Hilfe suchen. Und selbst dann mangelt es häufig an Wissen bei Ärztinnen und Ärzten, was zu Fehldiagnosen und unnötiger Therapie führen kann. Laut Dr. Bernsteins Studie wurde fast die Hälfte aller Frauen mit postkoitalen Symptomen nie auf Sperma-Allergie untersucht und erhielt jahrelang nicht die richtige Behandlung.
Wer also nach dem Geschlechtsverkehr regelmäßig Beschwerden hat, die mit Kondomnutzung rasch nachlassen, könnte von dieser unterdiagnostizierten Allergie betroffen sein.
Fazit
Die Seminalplasma-Überempfindlichkeit ist eine komplexe und häufiger auftretende allergische Reaktion, die Frauen wie auch – in selteneren Fällen – Männer betreffen kann. Obwohl sie zu belastenden Beschwerden und Einschränkungen der Lebensqualität führen kann, sorgt wachsende wissenschaftliche Aufmerksamkeit heute für eine bessere Erkennung und Therapie. Durch weitere Forschung, Aufklärung und offene Kommunikation kann SPH künftig gezielter diagnostiziert und behandelt werden—damit Betroffene ihr Sexualleben ohne Angst und Beschwerden genießen können.
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