Tonic Immobility: Das unerwartete Erstarren bei Haien – Entstehung, Funktion und Evolutionsgeschichte | Technologie, Auto, Krypto & Wissenschaft – Testright.de
Tonic Immobility: Das unerwartete Erstarren bei Haien – Entstehung, Funktion und Evolutionsgeschichte

Tonic Immobility: Das unerwartete Erstarren bei Haien – Entstehung, Funktion und Evolutionsgeschichte

2025-06-25
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Tonic Immobility verstehen: Das überraschende Verhalten von Haien

In der Meeresbiologie zählt die sogenannte Tonic Immobility – das plötzliche Erstarren oder „Totstellen“ – bei Haien und Rochen zu den faszinierendsten Phänomenen. Viele kennen dieses Verhalten von Landtieren wie Opossums, Kaninchen oder Reptilien, die sich zum Schutz vor Fressfeinden regungslos stellen. Diese automatische, tiefe Starre gilt als lebensrettende Strategie in der Tierwelt. Doch weshalb zeigen ausgerechnet Räuber wie Haie, die an der Spitze der Nahrungskette stehen, dieses paradoxe Verhalten? Diese Frage beschäftigt Forschende schon seit Langem.

Haie sowie ihre nahen Verwandten, Rochen und Chimären, treten in den Zustand der Tonic Immobility, wenn sie unter Wasser vorsichtig auf den Rücken gedreht werden. Sie werden dabei völlig bewegungslos, die Muskulatur entspannt sich, und der Hai wirkt wie in Trance versetzt. Dieser Zustand kann mehrere Minuten andauern und wird von Wissenschaftler:innen genutzt, um Haie schonend zu untersuchen. Warum Haie dieses Verhalten überhaupt entwickeln, ist bislang allerdings unklar geblieben.

Feldstudien: Die Erforschung des Erstarrens bei Haien und ihren Verwandten

Um das Verhalten besser zu verstehen, hat eine aktuelle wissenschaftliche Studie 13 Arten untersucht – darunter verschiedene Hai-, Rochen- und Chimärenarten. Die Tiere wurden vorsichtig umgedreht und beobachtet, ob sie in den Zustand der Tonic Immobility übergehen. Das Ergebnis: Sieben Arten zeigten diese Erstarrungsreaktion, sechs weitere nicht.

Durch evolutionäre Analysen wurde das Verhalten über Hunderte Millionen Jahre Stammesgeschichte kartiert, um Hinweise auf seine Entstehung und mögliche Vorteile zu liefern. Ein zentrales Ziel war herauszufinden, ob Tonic Immobility ein von urzeitlichen Vorfahren vererbtes Merkmal ist oder ob es sich um eine vergleichsweise junge Anpassung mit konkreten Überlebensvorteilen handelt.

Aktuelle Hypothesen im Test: Ist Tonic Immobility eine Anpassung?

1. Anti-Räuber-Verhalten

Eine gängige Theorie besagt, dass die Erstarrung ein Schutzmechanismus gegen Fressfeinde darstellt – ähnlich wie das Totstellen bei Landtieren. Doch die Studien zeigen keine direkten Belege dafür, dass das Einfrieren die Überlebenschancen bedrohten Haien erhöht. Im Gegenteil: Einige Räuber, wie Schwertwale, nutzen diese Reaktion gezielt aus, indem sie Haie auf den Rücken drehen und so leicht auf empfindliche Organe zugreifen können.

2. Funktion bei der Fortpflanzung

Eine andere Annahme betrifft die Fortpflanzung bestimmter Haiarten. Während der Paarung drehen Männchen die Weibchen auf den Rücken, weshalb vermutet wird, dass Tonic Immobility das Weibchen beruhigt und die Paarung erleichtert. Allerdings fanden Forschende keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern in ihrer Reaktion auf das Umdrehen, und für Weibchen könnte das regungslose Verharren sogar ein zusätzliches Risiko bei erzwungenen Paarungen bedeuten.

3. Reaktion auf sensorischen Überfluss

Eine dritte Hypothese bringt Tonic Immobility mit Reaktionen auf eine Überflutung der Sinne in Verbindung. Allerdings wurde dieser Zusammenhang bislang weder systematisch untersucht noch empirisch ausreichend belegt.

Evolutionäre Einordnung: Tonic Immobility als uraltes Erbe

Da die adaptive Bedeutung der Erstarrung für moderne Haie fraglich bleibt, richten Forschende ihren Blick auf die Evolution. Analysen deuten darauf hin, dass Tonic Immobility ein plesiomorphes, also ursprüngliches, Merkmal ist – einst typisch für die frühen Vorfahren von Haien, Rochen und Chimären und bis heute in einigen Linien erhalten. Bemerkenswert ist aber, dass diese Fähigkeit bei vielen Arten im Laufe der Zeit wieder verloren ging, wenn sie keinen Nutzen brachte oder sogar schadete.

Gerade kleinere Arten, die in Korallenriffen oder engen Felsspalten leben, wären mit der Erstarrungsreaktion eher gefährdet, weil sie dort leichter gefangen oder gefressen werden könnten. Die Anpassung an solche speziellen Lebensräume führte zur allmählichen Ausbreitung anderer Verhaltensweisen und zum Verschwinden der Tonic Immobility.

Neue Erkenntnisse: Nicht jedes Hai-Verhalten ist eine Anpassung

Die aktuellen Ergebnisse stellen die weitverbreitete Annahme infrage, dass jedes Merkmal in der Natur, besonders bei urtümlichen Räubern wie Haien, automatisch als perfekte Anpassung gilt. Tonic Immobility könnte bei einigen Arten tatsächlich nur ein evolutionärer Überrest sein, der weder schadet noch nützt und deshalb bis heute erhalten geblieben ist. Dieses umfassendere Verständnis wirft neues Licht auf die Hai-Evolution und zeigt, dass biologische Eigenheiten nicht immer eine klare Funktion erfüllen müssen.

Fazit

Das Erstarren bei Haien – die Tonic Immobility – wird heute eher als ein Relikt aus grauer Vorzeit angesehen denn als ausgeklügelte Überlebensstrategie. Mit jeder neuen Entdeckung über dieses ungewöhnliche Verhalten gewinnen Meeresbiolog:innen wertvolle Einblicke in die Komplexität der Hai-Entwicklung und die spannenden Wendungen der Evolutionsgeschichte. Die Forschung zeigt, wie wichtig es ist, scheinbar offensichtliche Annahmen zu hinterfragen und die evolutionären Wurzeln tierischer Verhaltensweisen neu zu beleuchten – nicht nur bei Haien, sondern im gesamten marinen Ökosystem.

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