4 Minuten
Die wachsende Herausforderung immunbezogener Erkrankungen
In den letzten Jahrzehnten ist die Häufigkeit immunbezogener Krankheiten wie Allergien, Asthma, Ekzemen und Autoimmunerkrankungen massiv gestiegen – besonders in hochentwickelten und urbanen Gesellschaften. Immer mehr Forscherinnen und Forscher untersuchen die Ursachen dieses Trends und entdecken dabei einen wichtigen Zusammenhang: Der regelmäßige Kontakt mit Tieren und ihrer natürlichen Umgebung könnte entscheidend zur Stärkung des Immunsystems beitragen und dem Auftreten solcher Krankheiten vorbeugen.
Traditionelle Gemeinschaften und die Wirkung von Mikrobenexposition
Eine der aufschlussreichsten Studien auf diesem Gebiet stammt aus den USA: Hier wurden die traditionellen, ländlichen Gemeinschaften der Amish und Hutterer miteinander verglichen. Beide Gruppen teilen einen ähnlichen genetischen Hintergrund und führen generell gesunde Lebensweisen – jedoch unterscheidet sich der tägliche Tierkontakt erheblich. Amish-Kinder wachsen mit Haustieren und Nutztieren auf ihren Höfen auf und zeigen deutlich geringere Raten an Allergien und Asthma als Hutterer-Kinder, die durch ihre industrielle Landwirtschaft physischen Abstand zu Tieren halten. Laut der Fachzeitschrift Allergy treten bei Hutterer-Kindern vier- bis sechsmal häufiger Asthma und Allergien auf als bei ihren Amischen Altersgenossen.
Als Ursache sehen Experten die regulierenden Bestandteile des Immunsystems – besonders die regulatorischen T-Zellen, die maßgeblich an der Steuerung der Immunantwort beteiligt sind. Das breite Spektrum tierischer Mikroben, denen Kinder auf traditionellen Bauernhöfen begegnen, hilft dem Immunsystem, sich gesund zu entwickeln und Überreaktionen, wie sie bei Allergien vorkommen, zu verhindern.

Expertenmeinungen: Mehr als nur Bauernhoftiere
Die schützenden Effekte betreffen nicht allein den direkten Kontakt zu Nutztieren. Dr. Jack Gilbert, Professor an der University of California, hebt hervor, dass Kinder, die auf Bauernhöfen aufwachsen, ihr Risiko für Asthma und Allergien um bis zu 50 % senken können. Selbst das Zusammenleben mit einem Haustier, wie etwa einem Hund, reduziert das Risiko nachweislich um 13–14 %. Dies verdeutlicht, dass Tierhaltung in unterschiedlichsten Formen positive Auswirkungen auf die Gesundheit haben kann.
Wie beeinflussen Tiere das menschliche Immunsystem?
Forschende schlagen zwei Haupttheorien vor, warum der Umgang mit Tieren die Entwicklung des Immunsystems fördert:
1. Theorie des mikrobiellen Transfers
Fachleute wie Dr. Nasia Safdar von der University of Wisconsin argumentieren, dass nützliche Mikroben von Tieren auf den Menschen übertragen werden und so das Mikrobiom – also die Gesamtheit aller Mikroorganismen auf und im menschlichen Körper, insbesondere im Darm und auf der Haut – bereichern. Dieses Prinzip beeinflusst sogar die Heimtierfutterindustrie, die immer häufiger probiotische Produkte entwickelt, um das Mikrobiom von Haustieren und damit auch das ihrer Besitzer zu optimieren.
2. Theorie der Immun-Konditionierung
Andere Experten wie Dr. Jack Gilbert bezweifeln, dass tierische Mikroben dauerhaft den menschlichen Körper besiedeln. Stattdessen betonen sie, dass regelmäßige, kurzfristige Kontakte mit Tiermikroben als „bekannte Signale“ das Immunsystem aktiv und ausbalanciert halten – eine evolutionäre Anpassung nach Jahrhunderten enger Mensch-Tier-Beziehung. Die Vielfalt der Mikrobenkontakte trainiert das Immunsystem, zwischen echten Bedrohungen und harmlosen Stoffen besser zu unterscheiden.
Eine in Nature veröffentlichte Studie bestätigt diese Sichtweise am Beispiel der traditionellen irischen Travellers, die eng mit zahlreichen Tieren leben. Deren Darmmikrobiom ähnelt eher dem vorindustrieller Jäger- und Sammlergesellschaften als dem städtischer westlicher Bevölkerung. Dies könnte die sehr niedrigen Raten von Autoimmunerkrankungen wie Morbus Crohn, Multipler Sklerose und Lupus in diesen Gruppen erklären.
Moderne Lebensweise und die Immundefizit-Hypothese
Eine zentrale Erkenntnis der Forschung: Übermäßig sterile, urbane Lebensumgebungen entziehen unserem Immunsystem oftmals das erforderliche „Training“ mittels natürlicher Mikroben. Experten warnen, dass diese mangelnde Exposition durch übertriebene Hygiene und die Entfremdung von natürlichen Umgebungen ein Grund für den Anstieg immunbezogener Erkrankungen in westlichen Gesellschaften sein könnte.
Wieder Kontakt mit der mikrobiellen Umwelt – sei es durch Landwirtschaft, Haustierhaltung, Spaziergänge mit Hunden im Park oder sogar durch einfachen Bodenkontakt – führt zu einer nützlichen Mikrobeneinwirkung, die möglicherweise das Risiko für Asthma, Allergien und andere Immunstörungen senkt.
Fazit
Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse vermitteln eine klare Botschaft: Der Kontakt zu Tieren – ob durch traditionelles Landleben oder moderne Haustierhaltung – spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung eines gesunden Immunsystems. Angesichts zunehmend steriler Lebensräume könnte die bewusste Verbindung zu Tieren und Natur ein wichtiger Ansatz zur Bekämpfung der globalen Zunahme immunbezogener Krankheiten sein. Ob auf dem Land oder in der Großstadt: Raum für Tiere und natürliche Erfahrungen zu schaffen, kann das Wohlbefinden jedes Einzelnen und die öffentliche Gesundheit stärken.
Kommentare